Novaesium, alias Neuss

Völkerwanderung: Die Germanen dringen ins römische Imperium

von Gerhard Wirth 
I. Einleitung V. Hunnen, Germanen, Römer
II. Vorformen und Voraussetzungen VI. Das Ende der Epoche I
III. Der große Sturm VII. Das Ende der Epoche II
IV. Die germanischen Stämme VIII. Literatur und Verweise

II. Vorformen und Voraussetzungen


Völkerwanderung
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Die Völkerwanderung als die äußere Komponente dieser Entwicklung begann freilich keineswegs erst im 4. Jahrhundert n. Chr. Vorstufen lassen sich bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. nachweisen; an ihnen waren keltische wie germanische Völkerschaften beteiligt. Im 3. Jahrhundert setzte sich dies in der Bewegung der germanischen Skiren und Bastarnen von der Weichselmündung zu den Karpaten fort, im 2. Jahrhundert führte der Zug der Kimbern und Teutonen von Jütland bis Oberitalien und Südfrankreich, und im 1. Jahrhundert erschien Ariovist mit elbgermanischen Elementen in Gallien. Als Grund gelten Naturkatastrophen in Skandinavien und an Nord- und Ostsee. Wichtig war aber zugleich die Kenntnis von einer Welt im Süden mit ihren günstigen Lebensbedingungen, ihrem Reichtum, ihrer Ordnung, die für diese Völker ein Eldorado bedeutet haben muss. Nachrichten, vermittelt wohl lange bereits auch durch die keltischen Handelszentren, werden zu einer Verdichtung entsprechender Wunschvorstellungen geführt haben.

Druck an der Nordgrenze

Dem sich daraus ergebenden Druck an der Nordgrenze des Imperiums zu begegnen, wurde in der Kaiserzeit immer schwerer. Träger der Bewegung waren die Germanen, eine Ethnie, deren Eigenständigkeit gegenüber der keltischen erst seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bekannt war. Eine Bewältigung der germanischen Frage analog der keltischen aber war angesichts der räumlichen Ausdehnung unmöglich. Nach Verzicht auf eine expansive Germanenpolitik im 1. Jahrhundert waren Bündnisse mit benachbarten Stämmen zur Sicherung des Vorfeldes ein Provisorium, das an keiner Stelle lange hielt. Auch der am Ende des 1. Jahrhunderts in Germanien und Britannien begonnene, danach immer weiter ausgebaute Limes war höchstens ein Kontrollinstrument, zu einer Verteidigung des Imperiums reichte er nicht aus.

Saalburg
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Um Christi Geburt bildeten sich offenkundig neue Konstellationen. So ließen sich an Oder- und Weichselmündung neue Zuwanderergruppen nieder, die nun, unter besseren Bedingungen, an Zahl schnell wuchsen, sich mit Teilen der ebenfalls zahlenmäßig starken Stämme der Elbgermanen zusammentaten und eine Wanderbewegung nach Südosten begannen, die sie um die Mitte des 3. Jahrhunderts bis ans Schwarze Meer führte. Das Bild, das der römische Geschichtsschreiber Tacitus um die Wende zum 2. Jahrhundert n. Chr. noch von dieser Welt zeichnet, erscheint allzu idealisiert und spricht die Dynamik der Wanderbewegung kaum an, auch wenn er die von diesen Stämmen ausgehende Gefahr für das Imperium sehr wohl erkannte. Namen tun wenig zur Sache, denn viele von denen, die Tacitus und die anderen Autoren nennen, verschwanden wieder aus den Quellen, ohne dass wir Näheres über die Träger erfahren hätten. »Goten« (bzw. »Gutonen«), »Gepiden«, »Wandalen«, »Burgunder«, »Rugier« und »Langobarden« sind zu dieser Zeit vage Bezeichnungen und verweisen weder auf eine feste Struktur noch eine staatliche Ordnung. Die Etappen ihrer Wanderbewegung sind nicht bekannt. Die Räume, durch die sie führte, waren, so weit ersichtlich, wenig bewohnt. Es kam aber zu Kontakten mit anderen Ethnien, Slawen oder Völkern indoiranischer Zugehörigkeit, und auch zu einer gewissen kulturellen Angleichung an diese, was sich in der künstlerischen Selbstdarstellung ebenso zeigt wie in der Annahme neuer kriegerischer Praktiken. Manche dieser Gruppen verweilten länger an ihren früheren Sitzen, so zum Beispiel die Langobarden und Gepiden; die Heruler wiederum erscheinen früh als gespalten in einen westlichen, im 3. Jahrhundert an der Nordsee auftretenden, und einen östlichen Zweig, der um 267 über das Schwarze Meer setzte, in Plünderungszügen Kleinasien und Griechenland heimsuchte und schließlich mit Mühe besiegt wurde. Die Burgunder wiederum brachen die Südostwanderung ab und traten im 4. Jahrhundert in Süddeutschland auf.

Die Bewegung selbst erklärt sich aus einer zwangsläufig halbnomadischen Lebensform, die nicht auf dauernde Sesshaftigkeit aus war: Die Landnahme vollzog sich jeweils als Expansion in benachbarte Gebiete oder als Wanderzug in weiter entfernte Gegenden, und zwar unter ständiger Absplitterung und Neubildung von Wandergruppen sowie Übertritt selbst in andere Ethnien. Was unter den einzelnen Stammesnamen begegnet, geht demnach nicht mehr auf eine ursprüngliche biologische Verwandtschaft ihrer Träger zurück, mag von Fall zu Fall auch ein Kernbestand vorhanden gewesen sein. Mit der Entstehung von meist nur kurz sich haltenden politischen Gruppierungen einher ging die Herausbildung von Aristokratien, die, auf einer Gefolgschaft beruhend, im Allgemeinen die Monarchien überdauerten. Von einzelnen solcher Heerkönige sind Namen überliefert. Sie verschwanden wieder, wirkliche Monarchien von Dauer entstanden im Allgemeinen erst mit beginnender Sesshaftigkeit. Herrscherlisten aus späterer Zeit, meist von einem göttlichen Ursprung ausgehend, sind Fiktion und damit wertlos.

Eine wirksame Kontrolle der Bewegung durch Rom war nur schwer möglich. Überdruck in diesen Stämmen als Folge einer an sich nur schwer erklärbaren Bevölkerungszunahme führte zu Kollisionen untereinander und mit den bereits etablierten Völkerschaften nunmehr auch im Weichbild des Imperiums, mit Markomannen und Quaden, elbgermanischen Stämmen, die bereits um Christi Geburt nach Böhmen und in benachbarte Gebiete gewandert waren, oder den Sarmaten, einer indoiranischen Gruppe, die kurz danach durch Rom in der Ungarischen Tiefebene angesiedelt wurde. Die Zusammenstöße entluden sich im 2. Jahrhundert durch Einfälle auf Imperiumsgebiet. So diente die Zerstörung des Dakerreichs unter König Decebalus im heutigen Siebenbürgen wie die Einrichtung der Provinz Dacia der Vorfeldsicherung unter Trajan (110), und etwa Domitians Vorverlegung des Limes über den Taunus wie in Süddeutschland durch Antoninus Pius erklären sich aus der gleichen Absicht.

Einfälle großer Menschenmassen

Der Runde Berg bei Urach, am Rande der Schwäbischen Alb. Die Luftaufnahme zeigt in der Mitte das Hochplateau, auf dem sich vom 3. bis zum frühen 6. Jh. eine alemannische Burgsiedlung befand.
Photo: O. Braasch (Landesdenkmalamt BW)

Dann aber brach unter Mark Aurel im Jahr 165, beginnend mit einem Vorstoß von Langobarden durch elbgermanisches Gebiet an die mittlere Donau, eine Invasionsbewegung los, an der sich zusammen mit Nachbarstämmen die ostgermanischen Stämme beteiligten; sie verwüsteten in rund 20 Jahren erbitterter Kämpfe die Provinzen an der Donau von Rätien bis zum Schwarzen Meer weitgehend. Die Kaiser der severischen Dynastie (193-235) bemühten sich zwar um Wiederaufbau und verstärkte Grenzsicherung, aber unter Caracalla setzten sich auch die Elbgermanen in Bewegung, und der Kaiser musste den Vorstoß eines ihrer Stämme, der Alamannen, im nördlichen Franken abwehren. 235 starb Severus Alexander bei Vorbereitung eines neuen Feldzuges gegen sie. 232 setzte sich eine neue Welle in Bewegung, jetzt vom Rhein bis ans Asowsche Meer, und sie hielt diesmal ein Menschenalter an. Jahr für Jahr kam es zu Einfällen großer Menschenmassen, die längs der ganzen Donau das römische Gebiet zur Wüste machten und römische Armeen aufrieben, ja zur See selbst nach Kleinasien vordrangen und Griechenland heimsuchten. Die römischen Kräfte erschöpften sich schnell. Einzelne Kaiser fielen, Friedensschlüsse mit den Angreifern waren schon angesichts mangelnder Stabilität ihrer Gruppierungen unmöglich. Einfälle auch an der mittleren Donau komplizierten die Lage, weiter im Westen gelang es den Alamannen nunmehr, mühelos den Limes zu überschreiten und das Dekumatland östlich des oberen Rheins in Besitz zu nehmen (etwa 250). Rätien nördlich der Donau ging verloren und wurde Besitz von Juthungen oder Burgundern, südlich davon begann die Ansiedlung verschiedener, offenkundig auch ostgermanischer Gruppen zwischen einheimischer, romanisierter Bevölkerung und römischen Befestigungen. Im Westen gingen entsprechende Bewegungen kleinräumiger und deshalb langsamer vor sich. Doch begann nach dem Zusammenschluss der Stämme zwischen Elbe und Rhein (Chatten, Sugambrer, Chamaven, Chauken) unter dem Namen der Franken - erstmals erwähnt im 3. Jahrhundert - eine Landnahme am unteren Rhein offensichtlich als Einsickerung: Franken an der Küste zusammen mit den Sachsen an der friesischen Küste entwickelten vorübergehend ein Seeräubertum, das Einzelne bis an die spanische Küste führte.

Es war in erster Linie die physische Erschöpfung, die nach schweren Einbußen beiderseits und allgemeiner Schwäche diese Bewegung zum Stillstand kommen ließ. Die Kaiser hatten ihre Zeit fast ausschließlich an der Front zu verbringen, Usurpationen, fast immer aus militärischen Gründen, ergaben einen Verlust an politischer Ordnung und an Senatsautorität, die Hauptstadt Rom verlor ihre Bedeutung als Residenz an Mailand (286) und Ravenna (402) . Zugleich machte der fortwährende Krieg weite Landstriche zur Wüste, zerstörte die Existenzgrundlagen der Bevölkerung dort und belastete auch die nicht direkt betroffenen Gebiete. Die Umstrukturierung der Armee mittels der Teilung in ein mobiles Eingreif- und ein ortsgebundenes Grenzheer durch Kaiser Gallienus um 260 war die Anpassung an dringend gewordene Notwendigkeiten.

Bei all dem blieben die Ziele der Germanen die gleichen. Das Imperium war außerstande, ihren Wunsch nach Aufnahme zu erfüllen. So zwang die Not zu Gewaltaktionen, verstärkt durch den Druck der Nachrückenden. Plünderungszüge gingen mit Landnahmeverlusten Hand in Hand, sodass es nicht nur die Krieger waren, die im Verlauf der Kämpfe umkamen oder in die Sklaverei gerieten. Das Imperium konnte in seinen Abwehrmaßnahmen auf lange Traditionen zurückgreifen. Zwar bewegte sich im Osten die erwähnte Drift von der Ostsee zum Schwarzen Meer an der Peripherie des römischen Interessengebietes, um mit ihr fertig zu werden war es aber nötig, politisch Stabilität zu schaffen und auch bei den Stämmen in Bewegung Institutionen zu fördern, mit denen als Partner sich Übereinkommen erzielen ließen, die Dauer versprachen. Am ehesten boten sich für eine solche Rolle monarchische Führungselemente an; einige Namen solcher Führer sind überliefert. Römische Münzen aus diesem Zeitraum im Barbarengebiet lassen sich von hier aus verstehen, sie taten zugleich das Ihre, die äußerste Not zu lindern.

Die Aufnahme der Zuwanderer

Germane  
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Neben solchen Versuchen einer Fixierung der politischen Ordnung außerhalb der Grenzen stand zugleich die Aufnahme von einzelnen Zuwanderern oder von ganzen Gruppen, so wie dies in der Kaiserzeit, wenn nötig, stets praktiziert worden war und immer wieder zur Auffüllung leerer oder allzu dünn besiedelter Gebiete geführt hatte. Dabei war die vorläufige Rechtlosigkeit der Zugewanderten (dediticii) als Krieger, Kolonen oder Arbeitskräfte anderer Art unwichtig, denn neben ihr stand immer die Möglichkeit von sozialer Mobilität und auch der baldigen vollständigen Integration. Mark Aurel verzichtete zwar auf die Errichtung neuer Provinzen an der markomannischen und sarmatischen Grenze, doch nahm er ganze Stämme mitsamt ihren Herrschern ins Reich auf und verpflanzte sie in entlegene Gegenden, wo sie bald ihre Eigenständigkeit verloren. Mehr noch galt dies für die Armee, in die Barbaren unter entsprechenden Bedingungen oder als Verbündete (foederati) aufgenommen wurden; sie begannen mit ihren Familien in Militärkolonien als so genannte Laeten oder Gentilen den Prozess einer Integration in die Reichsbevölkerung. Seit dem 3. Jahrhundert bestand die römische Armee im Wesentlichen aus solchen Fremdstämmigen, die entweder in die bestehenden Truppenteile eingegliedert oder in geschlossenen eigenen Verbänden (numeri) Dienst taten und als für dauernd Aufgenommene ihr Ziel erreicht hatten. Die römische Militärstruktur und auch die Kampfestaktik passten sich dieser Änderung an, und seit dem 3. Jahrhundert bestand für solche Barbaren auch die Möglichkeit, in die höchsten Ränge der Armee aufzurücken.

Freilich, auf die Dauer war eine solche Integration Zugewanderter nur möglich, solange im Reich Bevölkerungssubstrate, aufnehmende Bevölkerungsteile, vorhanden waren, die eine solche ermöglichten. Wo, wie in den betroffenen Randgebieten, diese fehlten, zu schwach geworden oder, wie in Nordgallien, gar nicht vorhanden waren, behielten diese Fremden zwangsläufig ihre eigene Zivilisation und ihre Lebensformen bei, ja entwickelten ein eigenes Selbstbewusstsein auch gegenüber den Restbeständen früherer Bevölkerung, die ihrerseits nun in einen Sog der Barbarisierung gerieten. Römisches und romanisiertes Gebiet ging auf diese Weise noch vor der endgültigen Besetzung durch die Barbaren verloren.

Tetrarchen
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So hat sich gegen Ende des 3. Jahrhunderts das Bild des Imperiums geändert. Wohl blieb dessen Zusammenhalt scheinbar gewahrt, ja, stabilisierte sich nach einer gewissen Beruhigung wieder. Doch war die aufrechterhaltene Imperiumsherrschaft so wenig Vertrauen erweckend wie vertragliche Regelungen mit einzelnen Stämmen oder deren Herrschern. Nach der Räumung Dakiens unter Aurelian um 280 blieb die Donau die mühsam aufrechterhaltene Grenze. Noch einmal gefestigt erscheint dieser Zustand unter Diokletian, dessen tetrarchaische Reichsteilung (»Viererherrschaft« durch zwei Augusti und zwei Caesares) im Besonderen auch der regional wirksamen Bewältigung gerade derartiger Probleme dienen sollte, was in der Tat nicht ohne Erfolg blieb. Die römischen Münzen mit ihren hoffnungsvollen Legenden mögen diesen Zustand spiegeln.

Diokletian war vorübergehend die Festigung des Imperiums und eine Neustrukturierung gelungen, die bei äußerer Stabilität wohl Dauer versprach. Die weitere Entwicklung wie besonders die neue Phase der Völkerwanderung nicht lange danach freilich verhinderte, dass dieser Komplex von Maßnahmen und Neuordnung auf Dauer Bestand hatte. Konstantin schließlich als der alleinige Erbe der Tetrarchie (seit 324) vollendete das Reformwerk Diokletians, und auch seine Hinwendung zum Christentum wird von hier aus mit als eine weitere Möglichkeit der inneren Festigung zu sehen sein. Geändert für die Bevölkerung freilich hat sich wenig, und während auf der einen Seite bald danach selbst Kirchenväter davon sprachen, dass weite Teile die barbarische Invasion als eine Befreiung von dem Druck ansahen, den die Forderungen des Staates bewirkten, trugen auf der anderen Seite die innerkirchlichen, dogmatischen Gegensätze das Ihre zum Zerfall des Reiches bei.

Nach außen freilich war die Stabilisierung deutlich. Größere Bewegungen in dieser Zeit sind nicht bekannt, und meist gelang es, durch ein kurzes Eingreifen die Ordnung im Vorfeld wieder herzustellen. 334 verteilte Konstantin noch einmal eine besonders große Zahl von aufgenommenen Sarmaten im ganzen Reichsgebiet. Besonders jenseits der stets gefährdeten Donau gelang es, zwei gotische Reiche zu stabilisieren, von denen das ostgotische in der westlichen Ukraine, monarchisch geleitet, seinen Herrschaftsbereich offensichtlich weit über die Stämme Osteuropas ausdehnte und nicht mehr nur germanische Untertanen zusammenfasste. Das westgotische unmittelbar an der Donau als ein fester Bund von Kleinkönigtümern unter einem iudex als dessen Vertreter nach außen und oberstem Befehlshaber des Heeres war nach einem Vertrag 332 mit Rom besonders eng verbunden und überdies zu ständiger militärischer Hilfeleistung verpflichtet. Trotz gelegentlichen Widerstandes vonseiten der Führung, die 348 den Bischof Wulfila (Ulfilas) zur Auswanderung zwang, begann dort die christliche Mission vorwiegend im Sinne der arianischen Glaubensrichtung. Wulfila unternahm in dieser Zeit seine Bibelübersetzung in die Sprache des Volkes.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004

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