Novaesium, alias Neuss

Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation

von Hermann Ament 
I. Einleitung VII. Religion und Kultgemeinschaften
II. Wer waren diese Germanen? VIII. Landwirtschaft und Siedlungswesen
III. Die germanischen Stämme IX. Handwerk, Handel und Verkehr
IV. Der Stamm X. Bild und Schrift
V. Soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse XI. Die germanische Geschichte an ihrem Ziel
VI. Tracht, Schmuck und Bewaffnung XII. Literatur

II. WER WAREN DIESE GERMANEN?


Was hat die innerhalb dieses weiten Raumes ansässigen Bevölkerungsgruppen untereinander so verbunden, daß es angebracht und gerechtfertigt erschien, sie mit einem gemeinsamen Namen zu belegen, sie allesamt als Germanen zu bezeichnen? Aus der Sicht der Gallier bzw. Kelten ist mit der Bildung dieses Begriffs zweifellos eine Abgrenzung von der eigenen Identität verbunden gewesen, und diese Abgrenzung muß alsbald auch den Römern und nach einigem Zögern auch den Griechen eingeleuchtet haben: nichtkeltische Barbarenvölker also, die man nach dem erstbesten Teilstamm, mit dem man unliebsame Bekanntschaft hatte machen müssen, insgesamt als »Germanen« bezeichnete.

Eine gewisse Einheitlichkeit des kulturellen Erscheinungsbildes kam vermutlich hinzu: Diese Germanen waren im Prinzip seßhaft, trieben Ackerbau und Viehzucht, lebten in ländlichen Siedlungen mit reiner Holzarchitektur - eine Lebensweise, die zum guten Teil durch die Natur des Landes und seines Klimas bestimmt war. Sie unterschieden sich jedenfalls klar von den Jägervölkern des hohen Nordens ebenso wie von den Reiternomaden der östlichen Steppen.

Daß die Germanen von alters her eine gemeinsame Sprache besessen hätten und daß diese womöglich sogar ihre ethnische Identität begründet hätte, ist nicht zu erkennen. Vielmehr muß es im Bereich des heutigen nordwestdeutschen und niederländischen Flachlandes noch um die Zeitwende Völkerschaften gegeben haben, die aus einer anderen Sprachwelt stammten, ihr vielleicht sogar noch angehörten, die jedoch trotzdem und mit Recht den Germanen zugerechnet worden sind. Auch sind in der Mittelgebirgszone starke Bevölkerungsteile keltischer Herkunft und Zunge erst allmählich germanisiert worden. Gewiß ist es unbestreitbar, daß die Sprachen all derjenigen Völker, die in der Geschichte als germanisch in Erscheinung treten, in Wortschatz und Struktur Gemeinsamkeiten aufweisen, die sie als verwandt erscheinen lassen. Dies muss aber nicht auf eine physische Urverwandtschaft hinweisen, in dem Sinne etwa, daß alle Germanisch sprechenden von einem germanophonen Urvolk abstammen. Vielmehr können solche Gemeinsamkeiten auch als Resultate von Ausgleichs- und Überschichtungsvorgängen entstehen, die sich innerhalb eines einheitlich konditionierten Raumes vollzogen haben.

Dies dürfte in der Tat der eigentliche Entstehungsgrund des Germanentums gewesen sein: ein einigermaßen einheitlich konditionierter Raum. Darunter ist erstens sehr wohl der Naturraum zu verstehen: Die Landesnatur in Mitteleuropa und Südskandinavien und der hier ausgeprägte Klimatyp der gemäßigten Zone boten recht einheitliche Bedingungen, die zur Ausbildung übereinstimmender Wirtschaftsformen und Siedlungsweisen führten und die Entwicklung untereinander ähnlicher sozialer Strukturen begünstigten. Zweitens und vor allem aber der Zeitraum: Für die Herausbildung des Germanentums war die eigentümliche historische Konstellation prägend, die sich für jenen geographischen Raum gegen Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends ergeben hat.

Historische Rolle: Erben der Kelten, Anrainer der Mittelmeerwelt

Zwei kausal miteinander verbundene Vorgänge sind für die Herausbildung dieser spezifischen historischen Situation verantwortlich: der Untergang des mitteleuropäischen Keltentums und das Vordringen der Römer nach Mitteleuropa. Seit der Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. hatten die keltischen Stämme als nördliche Nachbarn der mittelländischen Hochkultur im Landstreifen zwischen Atlantikküste und Karpaten gesiedelt. Die Nähe zur mittelländischen Kulturwelt hatte ihre Daseinsform geprägt und ihre Entwicklung bestimmt, die sie schließlich an die Schwelle zur Hochkultur führte, wie Frühformen städtischer Siedlungsweise, der Umlauf von Münzgeld und Anfänge eigenen Schriftgebrauchs zeigen. Dadurch wurde die Eingliederung keltischer Gebiete in das expandierende Reich der Römer erleichtert; nach und nach wurden das keltisch besiedelte Oberitalien, die Alpen, der südliche Küstenstreifen Galliens und schließlich, in den Fünfzigerjahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. durch Caesar, ganz Gallien bis zum Rhein von den Römern erobert. Blühende und hoch entwickelte Landstriche verloren damit ihre keltische Identität. Das mitteleuropäische Keltengebiet im heutigen Süddeutschland sowie in Böhmen und Mähren geriet in die Isolation und schließlich in eine existenzielle Krise. Dies war die Stunde der bis dahin im Rücken der Kelten siedelnden mittel- und nordeuropäischen Barbarenstämme: Zusammen mit den Restkelten in Mitteleuropa formierten sie sich zu einer neuen ethnischen Gruppe, eben zu jener der Germanen, und übernahmen exakt die gleiche historische Rolle, die bis dahin die Kelten gespielt hatten. Germanen waren fortan die Anrainer der von den Römern getragenen hoch zivilisierten Mittelmeerwelt, deren Grenzen - eben durch die Römer - inzwischen bis in den mitteleuropäischen Raum vorgeschoben worden waren. Germanen waren es fortan, die sich ständig und in vielen Bereichen mit der römischen Zivilisation auseinander setzten, auf geistiger Ebene ebenso wie auf dem Schlachtfeld. Ihre zivilisatorische Entwicklung wurde maßgeblich von der Kultur der Mittelmeerwelt beeinflusst, und sie absolvierten auf diese Weise einen langen Lernprozess, der sie schließlich, am Ende der Antike, in die Lage versetzte, das römische Staatswesen wenigstens in seinem westlichen Teil abzulösen.

Nicht ein einheitlicher Ursprung in der Tiefe der Zeiten, nicht ein aus der Urzeit ererbtes Identitätsbewusstsein, nicht eine in solch mythischer Vorzeit grundgelegte Gesellschaftsordnung, nicht eine von allen Anfängen her überlieferte Religion - nichts von alledem war es, was die Gemeinsamkeit der Germanen ausmachte, sondern es war - selbstverständlich auf der Grundlage der bis dahin entwickelten Daseinsformen - die ihnen am Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. zugefallene historische Rolle »barbarische Völkerfamilie versus Römisches Reich«.

© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001

Verweis Die germanischen Stämme: Nordseegermanen und Rhein-Wesergermanen
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